„Eine Geschichte der Schande und des Verbrechens.“

Der Engel von Bremen (Repro: Witzel).

Kein Roland, sondern eine zarte Frau ist “der Engel von Bremen”.

“Mindestens 3 von 4 Morden fallen gar nicht als Morde auf”,

sagen altgediente Rechtsmediziner wie Michael Tsokos von der Charité (im TAGESSPIEGEL).
Anfang des 19. Jahrhunderts werden in Bremen in der Pelzerstraße Menschen krank und immer kränker und sterben so qualvoll, dass die Nachbarschaft sie schreien hört. Es ist ein Unglückshaus, geht das Gericht. Alle Männer, die hier einziehen, sterben früher oder später.
“Altweibergewäsch”, sagt der frisch verheiratete Stellmachermeister Rumpff und kauft das Haus zum Schnäppchenpreis, denn niemand will es haben. Und den “Engel von Bremen”, Tante Gottfried, die übernimmt er gleich mit als Haushaltshilfe. Sie hat alle Kranken so selbstlos und fürsorglich gepflegt.
Vom Tischler Bolte schräg gegenüber sind in den letzten 14 Jahren 13 Särge geliefert worden. – Wie viele Särge werden denn noch gebraucht?

Hermann Syzygos, geboren auf Kreta, hat seinen ersten Krimi geschrieben über einen historischen Fall von Serienmorden, deren Aufdeckung damals ganz Deutschland erschütterte. Lesen Sie hier den Anfang:

„Es gibt zwei Arten von Weltgeschichte: Die eine ist die offizielle, immer frisch frisiert und für den Schulunterricht bestimmt, eine Bilderbuchgeschichte für unsere Kleinen; und dann ist da die andere geheime Geschichte, welche die wahren Ursachen der Ereignisse in sich birg, eine Geschichte der Schande und des Verbrechens.

Honoré de Balzac, Verlorene Illusionen[1]


[1]    „Vous ne me paraissez pas fort en Histoire. Il y a deux Histoires : l’Histoire officielle, menteuse qu’on enseigne, l’Histoire ad usum Delphini; puis l’Histoire secrète, où sont les véritables causes des événements, une Histoire honteuse.” Balzac, Honoré de: Illusions perdues, in La Comédie humaine, Gallimard, « Bibliothèque de Pléiade », Paris 1976,  S. 1020.

Am 2. Januar 1813 starb in Bremen der alte Miltenberg, Gesches Schwiegervater. An dessen Sterbebett lernte sie zum ersten Mal in ihrem Leben die Gegenwart des Todes kennen. Zur Verwunderung aller ging sie sogar noch abends im Dunkeln hin und drückte dem Toten die Hand, um ihm eine gute Nacht und einen guten Schlaf zu wünschen. Sie schien überhaupt keinen Horror vor dem Leichnam zu empfinden.

Das einzige, was sie wirklich und wahrhaftig jeden Tag mehr störte, war der junge Miltenberg, ihr Mann, der als scheintote Schnapsleiche durch die Gegend torkelte und Geld kostete, richtig viel Geld.

Dies war ein Trailer und die Ouvertüre sozusagen, verehrte Leserin und geschätzter Leser, weil: Hier geht es um den Tod in Serie, wenn die Hauptperson erst mal richtig in die Gänge kommt. Ich sag es als  Kollege Autor nur schon vorher, damit Sie nachher  keinen Schreck kriegen. Ansonsten können Sie sich jetzt getrost eine Tasse First Flush Tippy Golden Flowery Orange Pekoe aus dem Teehause Paul Schrader eingießen oder ein Fass Beck’s Bier aufmachen und in Opas Lehnstuhl oder in die Wohnlandschaft zurücklehnen und sich sicher sein, dass Ihnen außer Gruseln nichts passieren kann, denn das Schwarze hier sind ja nur die Buchstaben zu Ihrer kriminelle Unterhaltung, wenn alles klappt und nicht nur die Tür.

Es ist der 13. April 1806. Um 12 Uhr mittags schüttet und hagelt es dermaßen auf die Hansestadt Bremen, dass du keine Ente vor die Tür gejagt hättest. Trotz des schauerlichen Sauwetters schoss Wollnäherin Margarete Timm durch dicke Regenfäden mit Hagelknoten hin und stammelte immer wieder dasselbe: „Syphilis… Miltenberg hat Syphilis…“

Viertel nach zwölf saß dieses blasse, zitternde, durchnässte zierliche Weiblein nun endlich warm und trocken bei der grobknochigen Kapitänswitwe Erna Blei, die vor drei Jahren erst nach Bremen gezogen war. Trotz ihrer vierkantigen Statur wirkte sie hübsch durch ihr angenehmes Gesicht, glänzende dunkle Haare und fröhliche braune Augen. Sie hatte sich auf zurückhaltende Art einen Platz an der Sonnenseite Bremens erobert durch geistige Regsamkeit und eine liebevolle Ausstrahlung. Und sie hatte bis jetzt alle Rechnungen und ihre Miete immer pünktlich bezahlt. Woher sie das Geld nahm, wusste keiner, doch denen, die es kassierten, war das egal. Witwe Blei roch nach Aloe vera. Es hieß von ihr,  sie habe das zweite Gesicht.

Margarete Timm gehörte zu jenen Leuten, die sich gern die Karten legen lassen, wenn sie nicht mehr wissen, was Trumpf ist. Diesbezüglich galt Erna Blei als anerkannte Fachfrau, gerade auch wegen ihrer Zurückhaltung und der Tatsache, dass sie sich nie aufdrängelte mit ihren Karten oder ihre Fähigkeiten selber lobte.

„Ich hab gehört, Mutter Timm, Vater Timm soll als Damenschneider dermaßen fleißig sein, dass er beim Nähen die Luft anhält, um zehn Stiche mehr pro Tag zu schaffen“, lachte die lustige Kaptänswitwe. „Herzlichen Glückwunsch! Dann brauchst du dir ja keine Sorgen zu machen wegen deines Haushaltsgeldes.“

„Wie viel?“ fragte Mutter Timm und zog einen kleinen  Geldbeutel aus den nassen Falten ihrer Kleidung.

„Einen Taler kostet dich der Spaß heute, weil du es bist.“ Der Taler wanderte übern Tisch und verschwand in Ernas roter Manschette am linken Ärmel. Nun wickelte sich die Witwe ihren schwarzen Schal um den Kopf und zündete noch drei Kerzen an.

„Wo brennt‘s denn diesmal, Mutter Timm?“ fragte Witwe Blei, die Mitte zwanzig war und aussah wie Ende vierzig.

„Der Miltenberg hat Syphilis, Erna“, keuchte Mutter Timm, „und er säuft wie ein Loch. Aber davon haben wir doch gar nichts geahnt, als er um Gesches Hand anhielt.“

Pause. Erna Blei hatte es nicht eilig und schon Schlimmeres erlebt.

„Und unser Sohn macht mir das Herz schwer“, fuhr die Timm zitternd fort. „Ständig läuft Johann Timm junior mit finsteren Blicken durch die Gegend, redet mit niemandem und ist so unzufrieden, dass Gott erbarm. Und regnen tut es ja nun auch noch wie die Sintflut. Hoffentlich halten die Deiche das viele Wasser aus. Ich weiß gar nicht, was aus uns werden soll, wenn es so weitergeht.“ Sie seufzte inbrünstig. “Wenn doch der Miltenberg bloß verrecken würde an seinem Suff.”

Witwe Blei mischte schweigend ihre Karten durch, ließ Mutter Timm abheben und legte den halben Tisch in Viererreihen voll. Dann konzentrierte sie sich. Draußen rauschte der Regen weiter wie die Niagarafälle.

Die Kapitänswitwe schwieg weiter, bis ihre Klientin es nicht mehr aushielt. „Was siehst du denn, Erna? Nun sag mir‘s doch!“

„Dein Sohn wird bald im zweitältesten Gewerbe der Welt arbeiten, Margarete“, flüsterte Erna geheimnisvoll.

„Ich weiß ja, was das älteste Gewerbe der Welt ist“, stotterte Mutter Timm. „Aber was ist denn das zweitälteste?“

„Du wirst es schon sehen, wenn er soweit ist“, antwortete die Witwe, die beim Wahrsagen immer gern mit den leichtesten Themen anfing. „Kann ich sonst noch etwas für dich tun, Margarete? Willst du vielleicht einen Blick in die Zukunft deiner Tochter werfen? Oder willst du wissen, ab wann in Bremen wieder die Sonne scheint?“

„Am besten beides“, antwortete Mutter Timm und kicherte wie ein Backfisch. Sie war kurz vorm Nervenzusammenbruch gewesen und nun wie ein Kind, das Lachen und Weinen in einem Sack hat.

Erna Blei betrachtete noch einmal die Karten, bekam plötzlich einen schweren Hustenanfall, riss das Fenster auf, um wieder Luft zu bekommen, und fing dann mit einem leidenschaftlichen Sopran an zu singen:

„Glücklich ist,

Wer vergisst,

Was doch nicht zu ändern ist.“

 

Sie hatte nämlich nicht nur das zweite Gesicht, sondern auch noch das zweite Gehör für kommende Melodien.

Gerichtsdiener Lüder Siemers lehnte zur gleichen Zeit am offenen Fenster des Stadthauses, fand diesen Gesang in der Ferne total kurzweilig, nuckelte an seiner weißen Tonpfeife und war ganz froh über seinen krisensicheren Job. Normalerweise spuckte er nie aus, das hatte er sich im Gerichtssaal abgewöhnt, doch diesmal spie er fröhlich nach draußen in den Regen und beteiligte sich so auch noch privat am öffentlichen Niederschlag.

Wenig später schimmerte der Himmel über Bremen wieder wolkenlos und hell wie ein Festzelt von innen.

Noch später kehrte Mutter Timm heim ins Haus Pelzerstraße Nr. 23 und zog ein trockenes Kleid an, ein riedgrünes Maxikleid aus der preiswerten Wolle von wegen Sturmflut ertrunkenen und notgeschlachteten irischen Küstenschafen.

„Es wird alles gut werden, Vater“, sagte sie ruhig zu ihrem Mann, der gerade wieder beim Nähen die Luft anhielt. „Es wird alles gut.“

Zur gleichen Zeit redete der junge Senator und Untersuchungsrichter Droste ein ernstes Wort mit Gerichtsdiener Siemers. „Das geht so nicht weiter, Lüder“, sprach Droste. „Die Verbrecher beschweren sich schon über dich und sagen, wie du herumläufst, das sei der schlimmste Räuberzivil, den sie je gesehen hätten. Also kauf dir gefälligst endlich einen Gürtel, sonst denken alle, du machst dir die Hose mit der Kneifzange zu.“ Weil der Senator seinen sozialen Tag hatte, gab er Siemers einen Taler als Zuschuss für Dienstkleidung.

Ungefähr siebzehn Minuten später betrat Lüder Siemers das Sattlereigeschäft, in dem Gesche Miltenberg, geborene Timm, hinterm Verkaufstresen stand. Nach einem Blick auf seine frisch geröhrten Hosen strahlte sie wie eine Honigkuchenkönigin den Kunden verkaufsfördernd an. „Was darf’s denn sein, Herr Gerichtsdiener?“

Gesche war so hübsch, dass Siemers erst mal die Spucke wegblieb. Diese neue Hauptrolle als Hausherrin kam ihren Starallüren sehr entgegen und auch als Gattin lebte sie sich lässig und geschickt an der grünen Seite des Sattlermeisters Miltenberg ein, wenn der denn nicht gerade blau war. Leider nagte zwischen seinen Beinen diese ekelhafte Krankheit, die er sich als gern gesehener Besucher bei Bremens Hafennutten geholt hatte. Bis zur vollständigen Heilung war er bei seinen ehelichen Pflichten erst mal dienstuntauglich. Doch weil er selber sowieso mehr Säufer als Sexist war und Gesche ihn nicht nur aus Liebe geheiratet hatte, konnten beide diese Schonzeit verhältnismäßig gut verkraften, obwohl Gesche sich inzwischen doch ein bisschen einsam vorkam.

„Heute brauch ich einen Gürtel, tapfere kleine Frau“, brummte Siemers und fand sich verdammt charmant.

„Wie wär’s mit dem hier?“ frug Gesche und warf locker einen fast handbreiten Riemen aus bestem Büffelleder mit silberner Gürtelschnalle auf den Ladentisch. „Das Modell wird immer gern genommen und ist jetzt total angesagt in Paris, New York und  Sankt Petersburg.“

„Du musst es ja wissen, Gesina“, brummte Lüder und machte damit bei ihr zwanzig Punkte, denn so nannte sie sich selbst gern. „Mit dem feschen Gürtel da muss ich mich doch vor allen Bremerinnen verstecken, wenn ich mal eine Nacht alleine verbringen will. Ich brauch aber was Seriöses fürs Gericht und fürs Stadthaus.“

„Wie kommt ihr denn klar mit den eingesperrten Verbrechern im Stadthaus?“ fragte sie neugierig.

Siemers antwortete: „Diese Verbrecher sind nach außen hin Menschen wie du und ich. Bei denen ist bloß eine Bremse im Kopf kaputtgegangen und deshalb klauen sie wie die Raben, morden und vergewaltigen oder saufen wie die Großen und vertragen wie die Kleinen. Und es werden immer mehr. Deshalb wird bald ein richtiges Gefängnis gebaut in Bremen, ein Detentionshaus, wie wir Fachleute sagen.“ Dann wies er auf den Büffelledergürtel mit der Silberschnalle. „Gibt es dieses Frag-mich-was-modern-ist-Modell auch in Schwarz statt Braun und mit Messingschnalle statt mit Silber?“

Schließlich nahm er einen einfachen schwarzen Gürtel mit, wie Gesche ihn sonst an Maurer, Dachdecker und Zimmerleute verkaufte.

Sie sorgte hier für Ordnung sowohl in der Hauswirtschaft als auch im Betrieb und kümmerte sich jeden Mittwoch um die armen Leute in Bremen. Das war zwar nicht unbedingt nötig, weil sich da auch schon andere drum kümmerten. Doch im Gegensatz zu ihrem Zwillingsbruder Johann Timm junior, dem unverbesserlichen Finstermann, schien Gesche bis auf wenige Patzer und Ausrutscher vollkommen die Ehrbarkeit des Elternhauses in ihre eigene kleine heile Welt zu übernehmen und einzubauen. Ihr wurde schon früh beigebracht, dass jedes „Dankeschön!“ eines Armen für den fröhlichen Geber einen göttlichen Verrechnungsscheck bedeutete, der im Himmel eingelöst werden konnte. Diese ständig wiederkehrenden Belehrungen wirkten sich so gravierend bei ihr aus, dass sie Heiligenschein und Helfermacke kaum noch voneinander unterscheiden konnte.

Schließlich legte sie für sich selbst einen Tag in der Woche fest als „Tag des Helfens“. An jedem Mittwoch wanderte sie durch Bremen und versorgte Bettler und Bedürftige mit Geld und Brot und Apfelmost. Dadurch wurde sie zu einer beliebten Mittwochsfigur im Straßenbild, besonders weil sie es bei aller Barmherzigkeit fertigbrachte, immer vergnügt und zart und anschmiegsam zu wirken.

Gesche wurde je älter, desto anmutiger. Später sagte sie über diese Zeit: „Ich wurde allgemein für besser gehalten als ich war, speziell für besser als mein Bruder.“

Nur einmal, als sie durch die Obernstraße spazierte, bekam sie einen Dämpfer. Diese prächtige Straße wird seit 1649 auf Ratsbeschluss hin regelmäßig gefegt und frisch gemacht, denn sie soll „gleichsam eine Zier und Ornament unserer guten Stadt Bremen sein“. Heute belegt sie auf der Rangliste der beliebtesten deutschen Einkaufsstraßen den fünfzehnten Platz mit über achttausend Passanten pro Stunde. Aber damals, wie gesagt, ging Gesina ganz allein dort spazieren. Plötzlich hörte sie hinter sich eine Sopranstimme singen:

„Sie tut so wie von Adel,

Nanu, nanu, nanu!

Ihr Vater führt die Nadel,

Was sagst du denn dazu?“

Als sie den Kopf wandte, war das Lied verstummt und niemand mehr zu sehen. Nur ein Hauch von Aloe vera hing noch in der Luft.

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So, das war’s erst mal. Wenn Sie die spannende Geschichte ganz und gar lesen wollen, dann besorgen Sie sich das Ebook:

Hermann Syzygos: Der Engel von Bremen

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Links zum Thema:
Gesche Margarethe Gottfried, geb. Timm – Seite bei Wikipedia.

Dossier bei Radio Bremen.

Dr. Dieter Fricke: “Gesina die Teufelsbraut”.

Bremer Geschichtenhaus.

Lagerix-Siegel.

Lagerix.